Regula Lüthi, Direktorin der Abteilungen Pflege, Soziale Arbeit und Medizinisch Technische Dienste an den UPK Basel, schaut mich etwas überrascht an: „Ich wüsste nicht, wie man darauf kommen könnte, nicht darüber zu sprechen“, sagt sie. „Solange man nicht kokettiert mit dem Thema, heisst das, oder es als Drohung einsetzt“.
„Das Thema“, nach dem ich mich gegen Ende unseres Gesprächs erkundige, ist der Suizid. Es ist heikel, über ihn zu sprechen. Noch heikler ist allerdings: drüber zu schreiben. Die Geister scheiden sich am richtigen Umgang mit dem Phänomen der Selbsttötung.
Die Zahl der jährlichen Suizidversuche in der Schweiz liegt irgendwo zwischen 10’000 bis 70’000. Zehn Prozent davon werden von Kindern und Jugendlichen unternommen. Im Jahr 2014 starben laut Bundesamt für Statistik 1029 Schweizerinnen und Schweizer durch eigene Hand. Es sterben hierzulande also mehr Menschen durch Suizide, als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, illegale Drogen und Aids zusammen.
Einige Suizidanten wählen aufgrund einer schweren körperlichen Erkrankung ohne Aussicht auf Heilung die in der Schweiz legale assistierte Variante. Viele andere aber töten sich, weil ein psychisches Leiden Ausmasse angenommen hat, die die Betroffenen glauben lassen, es gäbe keine Hilfe und damit auch: keine Hoffnung mehr für sie.
Die meisten Menschen erreichen einen solchen mentalen Tiefpunkt zu ihrem Glück nie. Aber es gibt ihn – in jeder Psyche. Wer einmal in seine Nähe gekommen ist, weiss, wie schwierig es sein kann, sich konstruktiv darüber zu unterhalten. Das Thema Selbsttötungsabsicht ist schliesslich nicht nur für Aussenstehende erschreckend, sondern zumeist auch für die Betroffenen selbst.
Eine ethisch begründete Tabuisierung des Themas ist allerdings auch keine Lösung: Die reflexartige Warnung vor dem sogenannten „Werther-Effekt“ kennt nahezu jeder, der nicht bloss hinter vorgehaltener Hand über Suizidalität spricht.
Es gibt allerdings auch das gegenteilige Phänomen, den sogenannten „Papageno-Effekt“. Der besagt, dass eine differenzierte Berichterstattung mit Hinweisen auf Hilfsangebote und einem Grundton der Ermutigung zum Leben potentielle Suizidanten von ihren Selbsttötungsplänen Abstand nehmen lässt.
„Es kommt immer darauf an, wie, in welcher Form und auch: über was für eine Art von Suizidalität man spricht“, beantwortet Regula Lüthi die Frage nach ihrer Einschätzung der Sachlage. Ob einer wirklich tot sein oder sterben oder eher: um jeden Preis nicht mehr leiden wolle, beispielsweise; ob von akutem oder bilanzierendem Suizid die Rede sei. „Alles, was Varianten sucht, ist eine gute Form der Auseinandersetzung“, fasst sie zusammen.
Differenziertheit ist der 1958 im Thurgau geborenen Wahlzürcherin wichtig. Nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem Thema Suizidalität, sondern auch und gerade, wenn es um die Psychiatrie im Allgemeinen geht.
„Die Varianz der Möglichkeiten, einer psychischen Krise zu begegnen, ist gross. Das geht im Freundeskreis los und ist auch unter uns Fachpersonen nicht anders.“ Die Psychiatrie sei eben keine klare Wissenschaft, die nach dem Prinzip wenn > dann funktioniere, erläutert Lüthi. Je nachdem, von welcher psychotherapeutischen Schule jemand geprägt worden sei, unterschieden sich auch die therapeutischen Herangehensweisen voneinander.
Eine ausgesprochen schwierige Situation für Menschen in einer Krise bzw. ihre Angehörigen. „Die Variantenvielfalt an therapeutischen Herangehensweisen macht es auch für Menschen, die der Thematik offen gegenüberstehen, schwer. Aus diesem Getümmel von Vorschlägen, Empfehlungen, Angeboten und Institutionen herauszutüfteln, welches der richtige Weg für einen selber ist, das ist eine der grössten Schwierigkeiten. Ich empfinde schwerste Bewunderung, wenn jemand das für sich herausgefunden hat“.
Die Eigenverantwortung der Patientinnen und Patienten spielt in Lüthis Ausführungen eine Hauptrolle. Ihre fachliche Prägung basiere auf der Sozialpsychiatrie, erzählt sie, und verweist auf Projekte wie die Soteria Bern, einem 1984 gegründeten Wohnheim zur medikamentenlosen oder -armen Behandlung von Menschen mit akut schizophrenen Psychosen. „Ich habe immer gefunden, man muss eigentlich mehr mit psychisch Kranken arbeiten als für sie“, erläutert sie, „diese Devise begleitet mich seit 40 Jahren durch meine Karriere“.
Solch kooperative Ansätze, wie Lüthi sie befürwortet, gibt es viele. Erwähnen tut sie die Fountain Houses, in denen Menschen mit psychischen Störungen in Gemeinschaften zusammenleben und mitbestimmen, was wann für sie am besten ist. Neben Institutionen gibt es auch in der Therapie zahlreiche Herangehensweisen, die die Expertise der Betroffenen miteinbeziehen: das Revocery-Modell, die Peer-Methode und das Prinzip des sogenannten Trialogs spielen hier beispielsweise eine wichtige Rolle.
Mindestens so wichtig wie die Berücksichtigung individueller Kenntnisse und Erfahrungen von Patienten sei jedoch auch, auf welchem Weg Betroffene in psychiatrischer Behandlung landen.
„Über welche Eingangspforte man in die Psychiatrie kommt, ist eben wirklich matchentscheidend“, erklärt Lüthi. „Grundsätzlich haben wir flächendeckend alles in der Schweiz, wir sind ja sehr reich. Wenn man Hilfe braucht und sucht, findet man in kürzester Zeit etwas. Die Frage ist dann nur noch, auf wen man trifft und wer da seine Ansichten zum Thema gibt.“ Auf die Frage, wie man sich in diesem Dschungel von Möglichkeiten orientieren könne, antwortet sie: „Es gibt kein Richtig und kein Falsch. Aber ich sage immer: je einfacher etwas daherkommt, desto falscher ist es meist.“
Der Einstieg ist also fast das Schwierigste an der Therapie: der betroffene Mensch muss selbst zur Einsicht gekommen sein, krank oder wenigstens hilfebedürftig zu sein. Er muss den Mut und die Kraft aufbringen, den ersten Schritt zu tun und sich auf der Basis meist nur sehr geringer Fachkenntnisse für zunächst eine Option im weiten Feld psychologischer Hilfsangebote entscheiden. Oft ist die kritische Unterstützung durch Freunde, Kollegen oder Angehörige nötig, um das Tor zur Welt psychotherapeutischer Massnahmen aufzustossen.
„Wenn jemand psychisch krank wird, ist wesentlich, wen er oder sie um sich hat und wie die Krankheit angesprochen wird. Du kannst die beste Burn-Out-Klinik gleich nebenan haben, das hilft gar nichts, wenn der Freund zu dir sagt: komm, reiss dich zusammen, wir gehen zwei Wochen in die Südsee und dann ist wieder gut“.
Zur Frage, wie offen man in der Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen umgehen könne, sagt Lüthi: „Allgemein erlebe ich eine recht hohe Bereitschaft dazu, sich mit der Frage nach psychischer Gesundheit bzw. Krankheit auseinanderzusetzen“. Trotzdem teilt auch sie den Eindruck, dass über psychische Krankheiten zu sprechen erst noch selbstverständlich werden muss. „Über jede Hautveränderung, jede Diabetes kann man sprechen, so muss es mit den psychischen Erkrankungen auch sein“, findet sie.
Für das erste Gespräch mit jemandem, von dem man den Eindruck hat, es stimme etwas mit der Psyche nicht, hat sie dann auch ein paar Tipps parat:
1.) „Lassen Sie sich nie beirren durch die erste Abschreckung.“
2.) „Argumentieren Sie immer beschreibend, nie interpretativ. Erklären sie der Person, was sie beobachten, was ihnen an ihr auffällt, was sie sehen und was sie hören.“
3.) „Argumentieren Sie alltagsbezogen und praktisch.“
4.) „Vereinbaren sie immer eine Anschlusslösung. Treffen Sie immer eine Abmachung, wie es nach dem Gespräch weitergeht.“
Für Fachkräfte hat Regula Lüthi noch ein paar weiterführende Hinweise:
5.) „Seien Sie demütig, überhöhen Sie Ihre eigenen Kompetenzen nicht.“
6.) „Wann immer möglich, lassen Sie auch unpsychologische Behandlungsmethoden zu.“
Als eines der grössten Mankos benennt sie, dass ihrer Erfahrung nach viele Fachpersonen psychisch kranke Menschen hauptsächlich aus dem stationären Bereich kennen. „Den grössten Teil meines Lebens habe ich aufsuchend oder ambulant gearbeitet. Ich glaube, ich habe dadurch eine andere Vorstellung davon, wie man psychische Erkrankungen im Alltag meistern kann. Menschen brauchen unsere Hilfe dabei, an ihre eigenen Ressourcen zu glauben, ihre Resilienz wiederherzustellen“.
Die Psychiatrie als einen Ort zu betrachten, der ausserhalb der echten, der normalen Welt liegt, hält Lüthi für einen kapitalen Denkfehler. „Wenn wir das so aufrecht erhalten, dass wir draussen die effizientesten, aufgestelltesten, konsumorientierten Menschen sind, denen eine 60-Stunden-Woche nichts ausmacht und wir dann in die Klinik gehen, um uns nach jedem Zusammenbruch wieder aufpäppeln zu lassen und draussen weiterzumachen wie gehabt – dann laden wir eine grosse Schuld auf uns“.
Genauso wie Menschen mit einer psychischen Erkrankung Hilfe benötigen, brauchen auch ihre Angehörigen, Freunde, Kollegen oder Arbeitgeber Unterstützung im Umgang mit der erkrankten Person. Den Helden spielen zu wollen, scheint jedenfalls in keiner Hinsicht eine gute Idee zu sein. Sensibilität, Offenheit und eine Bereitschaft, miteinander Lösungen zu finden, führen mit grösserer Wahrscheinlichkeit zum Ziel.
„Weihen Sie in Zeiten, in denen es ihnen gut geht, Freunde, ausgewählte Kolleginnen oder Kollegen und ihren Arbeitgeber in die Krankheit ein“, rät Lüthi. „Sagen sie denen: Du, Dir vertraue ich jetzt etwas an. Du passt jetzt bitte für mich mit auf und sagst mir bescheid, wenn sich etwas verändert“. Mit dieser Taktik sei die Grundlage für ein stabilisierendes Netzwerk auch am Arbeitsplatz gelegt.
Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen sei dies besonders wichtig. „Die grossen Firmen haben da oft Gesundheitsmanager und Casemanager. In einem KMU sollte man direkt den Kontakt zum nächsten Vorgesetzten suchen. Und wenn sie bereits in der Klinik liegen, rufen Sie Ihren Arbeitgeber an und laden Sie ihn ein, sie zu besuchen. Klären Sie mit ihm, wie es nach ihrer Entlassung weitergehen kann“.
Lüthis Erfahrung nach sei die Bereitschaft der Vorgesetzten, für ihre Mitarbeitenden Sorge zu tragen, gross. „Die wissen aber natürlich auch oft nicht, wie sie mit einem psychisch kranken Angestellten umgehen sollen. Viele von denen schämen sich, weil sie nicht besser wissen, was sie tun können“.
Eine gelungene Therapie also findet nicht in der Psychiatrie statt. Sie bedarf eines Zusammenspiels verschiedener Kräfte: Angehörigen und Freunden, die sensibel und zugleich verlässlich agieren; Betroffenen, die akzeptieren, Hilfe anzunehmen; Arbeitgebern und Mitarbeitenden, die bereit sind, mitzuhelfen; und einer Gesellschaft, die die Logik des „Drinnen“ und „Draussen“ durch einen inklusiveren Ansatz ersetzt.
„In der Schweiz ist ausserordentlich viel noch immer stationär ausgebaut“, erzählt Lüthi. „Dabei finde ich immer: das wahre Leben findet einfach nicht in der Klinik statt“.
Bei einer akuten mentalen Krise – sei es die der eigenen Psyche oder die von Kollegin, Freund, Nachbarn – hier gibt es nützliche Informationen und akute Hilfe:
Im Notfall: Dargebotene Hand
Tel 143 – Die Dargebotene Hand ist rund um die Uhr da für Menschen, die ein helfendes und unterstützendes Gespräch benötigen. Das Schweizer Sorgentelefon bietet Anrufenden völlige Anonymität. Anrufen kann man jederzeit – egal ob „kleine“ oder „grosse“ Krise.
Beratung: ProMenteSana
Die 1978 gegründete Stiftung Pro Mente Sana setzt sich für psychisch beeinträchtige Menschen in der Schweiz ein. Sie hilft aber auch Angehörigen und Fachpersonen in vielen Bereichen weiter.
Danke, echt für das Thema. Sehr interessante Tipps und Darstellung. Mich hat vor allem am Anfang die Tabuisierung des Suizids sehr interessiert; auch zwischendurch klang das immer wieder hervor.
Warum ist das so?
So könnte man doch ketzerisch meinen, dass wenn ein Mensch so weit ist, sich das Leben nehmen zu wollen, dass er vorher wohl drüber spricht und es ihm egal zu sein hat, was dann andere denken? Sitzt die Meinung „der anderen“ in einer sich selbst immer perfekter darstellenden und optimierenden Gesellschaft so tief, dass selbst in dieser Situation nicht drüber gesprochen werden kann? Oder ist es so, dass „man“ glaubt, dass es eh keinen interessiert oder nichts bringt?
Quatsch! Obige „Fragen“ können vielleicht auf die Betroffenen übertragen werden, die sich diesem – immer übler werdenden – substanzlosen Facebook-Instagram-Selfie-Perfektionismusdruck nicht entziehen, aber auch nicht ohne diesen (Leben) können(?).
Denn das Problem eines psychisch Erkrankten ist doch vielmehr nicht er selbst (außer seine Krankheit), sondern die Einstellung vieler anderer zu diesem Thema. Dass z.B. in obigem Gesellschaftsbild Suizid als ein Zeichen des Scheiterns angesehen wird, das doch wohl keiner – besonders nicht das Gegenüber – ernsthaft in Erwägung ziehen kann. „Das macht man doch nicht“. Diese Ansicht sitzt so tief, dass das Thema „Krankheit“ arrogant ignorant sogar als Show des Erkrankten abgetan wird. „Er/sie/es war ja schon immer ’ne Dramaqueen, braucht Aufmerksamkeit“, „Er/sie/es hat doch alles, was man will, dem geht es so gut, der kann ja nicht ernsthaft drüber nachdenken…“.
Und wenn es dann passiert, dann wird geflüstert „der Sohn von Frau XXX hat sich ja letztens das Leben genommen…“, als sei es ein Scheitern der Eltern oder Freunde…
Zusammenfassend ist es meiner Meinung nach Schlicht nicht möglich, dass das Thema enttabuisiert wird, da Suizid (ob als Folge einer Krankheit oder sozialen Drucks) immer als VersagensSCHULD (von wem auch immer) angesehen wird.
OK, ich hab dieses gerade etwas emotional und nicht gut strukturiert ‚runtergeschrieben. Meinen Senf wollte ich bei diesem Thema jedoch dazugeben.
Hi Marcel,
Dank Dir für den Input. Ich glaube, es gibt keine eindeutigen Antworten auf die Fragen, die Du aufwirfst. In meinen Augen ist Suizidalität oft das Symptom einer affektiven oder psychischen Störung. Wie ein Mensch darauf reagiert, ist so individuell, wie die Persönlichkeit der betroffenen Person individuell ist.
Es hilft sicher enorm, drüber zu sprechen. Denn die Einsamkeit und das Alles-mit-sich-selber-Ausmachen sind fraglos Verstärker einer psychischen Krise.
Es gibt natürlich Leute, die auf psychische Krisen spöttisch reagieren. Aber erfreulicherweise hat sich die Rezeption da verändert in den letzten Jahren. Das Thema ist im Begriff, enttabuisiert zu werden. Wenn man also die Kraft hat, sich zu erklären bzw. um Hilfe zu ersuchen, dann hören einem schlussendlich doch viele Menschen zu.
Die, die es nicht tun oder einen Menschen in solcher einer Situation nicht ernst nehmen, haben entweder selbst eine Klatsche oder können getrost als Arschlöcher abgestempelt und vergessen werden.
Aber wie gesagt: das ist ein komplexes Feld mit zahllosen Varianten, Möglichkeiten, Färbung und Formen. Es gibt nicht DIE richtige Umgangsweise mit Suizidalität. Es kann immer nur eine Suche nach einem Umgang mit dem Thema sein. Für Betroffene, Angehörige, Kolleginnen, Außenstehende. Dass dieser Umgang für Betroffene alleine schwieriger herzustellen ist, als mit der Hilfe von Menschen, denen sich die / der Betroffene anvertrauen mag, steht für mich absolut ausser Frage. Und dabei ist es egal, ob es ein Nachbar, der Psychiater oder die Ehefrau ist.
Wie es in „Verstauchte Seele“ heisst: „Die sprachloseste, hilfloseste Person kann die Rettung für eine/n Verzweifelte/n sein, wenn sie einfach nur bleibt.“