Es ist immer noch eine meiner Lieblingsbeschimpfungen. Seit der Grundschulzeit eigentlich. Mit dem Wort “Ficken” werfe ich aus bemitleidenswert naiven Gründen irgendwie auch mit 31 Jahren noch sehr gerne um mich. Ursprünglich war es wohl der Reiz einer schmutzigen, das kleinbürgerliche Seriositätsempfinden perforierenden Formulierung, der mich angetrieben hat. Aber ist das wirklich noch zeitgemäß? Davon abgesehen, dass sich Begriffe durch überdurchschnittlich häufigen Gebrauch ebenso abnutzen wie billige Baumarktsägeblätter, stellt sich doch die Frage, was einen dazu bewegt, Menschen den Beischlaf miteinander zu empfehlen, wenn man ihnen eigentlich mitteilen möchte, dass etwas an ihnen oder ihrem Verhalten einem grundlegend missfällt.
“Fickt Euch doch alle mal, Alter”. Wie oft ich diesen Satz gehört habe in meinem Leben! Man stelle sich vor, die auf diese Weise angesprochenen würden der Empfehlung jedesmal folge leisten. Da stünde man als Verwünschender aber bald ziemlich einsam und traurig inmitten kopulierender Massen und müsste sich fragen, warum sich mit einem selber keiner ficken mag. Wir assoziieren mit einer der fraglos schönsten Beschäftigungen, die die Evolution für uns aus ihrem Zauberhut gezogen hat, etwas abstoßend Hässliches und zutiefst Asoziales. Dabei findet doch eine große Mehrheit der Menschen den Fick an sich ganz offensichtlich herrlich! Warum filmen sich denn sonst alle dabei und stellen ihre Dokumentationen ins Internet?
Die meisten Leute, die ich kenne, ficken gerne. Wie häufig sie das tun, sei mal dahingestellt, und ob sie den Begriff “Ficken” für den Koitus benutzen, ohnehin. Sicher ist nur, die meisten täten es lieber häufiger als seltener. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Aber gesund scheint es in den meisten Fällen nicht zu sein, auf die Libido zu verzichten. Vielleicht, weil es wider die Natur wäre? Im Gegensatz zu schwulem oder lesbischem Sex, beispielsweise. Der ist nur ein Tabu für dissoziierte alte Säcke und von Verlustängsten emotional zugrunde gerichtete Würstchen, denen zu lang keiner gesagt hat, dass sie sich doch mal besser gegenseitig liebevoll ficken sollten, statt anderen Menschen ihre misanthropische Weltsicht aufzunötigen.
Bonobos sind ja meine Lieblingsbeispiele, wenn es um die eventuellen Vorzüge frei ausgelebter Sexualität geht. Anders als ihre nahen Verwandten, die Schimpansen, marodieren sie nicht als vom Männlichkeitswahn getriebene Kampfaffen durch den Wald und benutzen Sex ausschließlich als Mittel zur Fortpflanzung und Unterdrückung. Bei den Bonobos pimpert man auch mal einfach so miteinander, wenn man sich gar nicht kennt. Weil das der Stimmung gut tut. Jedenfalls steht das so in den neueren Büchern, die ich über Bonobos gelesen habe. Kennt doch auch jeder, das Phänomen: nach dem Orgasmus können die meisten von uns mit übersteigerten Aggressionen nicht mehr dienen. Da rollen wir uns auf die Seite und pennen ein. Erst wenn wir eine geraume Weile ungefickt geblieben sind, kriegen wir wieder so richtig schön einen dicken Hals und wollen allen auf die Fresse boxen, die nicht ausweichen, wenn sie uns auf unserem Gehweg entgegenkommen (gilt jedenfalls für ungefickte Männer gegenüber anderen ungefickten Männern).
Was wäre, wenn wir das einführen könnten, dieses bonoboische Selbstverständnis bei der Wahl des nächsten Sexualpartners? Wenn nicht mehr Besitzansprüche am Partner uns dazu veranlassen würden, mit Fäusten und Macheten auf jeden potentiellen Nebenbuhler loszugehen? Wenn wir auf der Straße aneinander vorbeigingen und dann, wenn es irgendwie knistert, einfach mal hingehen und sagen würden: “Du, wie sieht’s aus, Bock auf Entspannung gerade? Ich hab noch ‘ne Viertelstunde bis zum Zahnarzttermin. Mein Partner? Hat nix dagegen, wieso sollte er?!” Da träumen wir doch heimlich alle von. Mal im Ernst! Von einer entspannteren Sexualität, meine ich. Nicht davon, jedem, dem man auf der Straße begegnet, gleich den Intimbereich zu kraulen. Aber lockerer zu sein. Das wünscht man sich doch dauernd.
Wenn man mal nachfragt, kriegt man jedenfalls von verdächtig vielen eine ähnliche Antwort. “Ja”, heißt es da spätestens nach dem dritten großen Bier, “natürlich macht mich das manchmal fertig. Nicht mit jemand anderem in die Kiste steigen zu können, wenn ich Bock drauf habe”. Irgendwie scheint die Natur einfach nicht respektieren zu wollen, was der Homo Stolatus sich zum Thema Beziehungsregeln da so zurechtgelegt hat. Bei den Gänsen klappt es, bei ein paar Antilopen- und Fledermausarten, beim kanadischen Biber und ein paar Neuweltaffen. Abgesehen von diesen Ausnahmen aber, frönen mindestens 95% der Tierwelt dem Rock’n’Roll und pimpern sich gewissenlos durch Steppen und Regenwälder. Und auch wir Menschen tun ja meistens nur so, als ob, wenn wir monogam leben. Wenn wir aus fragwürdigen Gründen Nachbarn, Verwandte und Kollegen davon zu überzeugen suchen, dass Monogamie unserer persönlichen Natur jedenfalls wirklich entspricht.
Den Bonobo in uns verscheuchen wir ins Internet. Auf youporn, redtube, livejasmin und wie die ganzen Bumsportale alle heißen. Terrabyteweise werden da Billardkugeln zweckentfremdet und Phantasien ausgelebt, bei denen man sich fragt, ob sie auch entstanden wären, wenn wir nicht so manisch damit beschäftigt wären, uns unsere Triebe auszureden.
Ist das ein Hobby von uns? Klar, es gibt HIV, und man will sicher nicht mit jedem gleich ein Kind zeugen, den man auf der Straße aufliest. Aber warum hängen wir unsere Städte und Dörfer voll mit nackten Weibern und lasziven Typen und konfrontieren uns rund um die Uhr mit Sex und Feuchtgebieten und Anspielungen, wenn wir das alles eigentlich doch gar nicht brauchen? Warum kommt keiner auf die Idee, ob eine entspanntere Herangehensweise an die Thematik nicht vielleicht fröhlicher machen würde als Latexpimmel und aufblasbare Mösen?
Aber natürlich ist die freie Sexualität eine Utopie. Uns steckt da der zwanghafte Gedanke, unbedingt alles und jeden besitzen zu müssen, viel zu tief in den Knochen. Miteinander teilen – das ist nicht so unseres. Sozialdarwinistisch könnte man jetzt kommen und sagen: “klar, Survival of the Fittest, Alter, das ist so in uns angelegt, unsere Gene möglichst erfolgreich (und exklusiv) weiterzugeben”. Stimmt ja wahrscheinlich auch. Trotzdem denke ich manchmal: wo sollen wir denn mal am besten als nächstes hinevolutionieren? Wo wir doch schon so ziemlich alles erreicht haben ansonsten.
Brauchen wir Kiemen, damit wir endlich auch den Grund der Ozeane mit Wohnblocks und sechsspurigen Autobahnen zuzementieren können? Sollten uns Antennen wachsen und Touchscreens, damit wir uns wieder mehr miteinander beschäftigen, statt dauernd am Telefon rumzufummeln? Oder wäre es mittelfristig nicht wenigstens einen Versuch wert, unsere evolutionäre Erfolgsstrategie zumindest teilweise unserer Lebenswirklichkeit anzupassen? Wir dominieren die Erde! Wir sind die Masters of the Universe, jedenfalls hier unten, auf Planet Blau. Alles ist unterworfen, alles gehört uns!! Der größte anzunehmende Sieg wäre doch jetzt, die Evolution zu überlisten und die strategischen Waffen, mit denen sie uns ausgestattet hat, so dass wir diesen völlig übertriebenen Zustand erreichen konnten, dafür zu nutzen, auf der besiegten Erde ein bisschen Spaß zu haben miteinander. Bevor uns wieder Kiemen wachsen, meine ich.
Vielleicht meinen wir doch im Grunde unserer Herzen etwas Gutes, wenn wir uns gegenseitig lautstark “Fickt Euch doch alle einfach” wünschen. Wäre zumindest eine Überlegung wert, finde ich.