Ich habe Stückschreiben in Berlin studiert, sprich: zu viel getrunken und geraucht und mir über das Verhalten meiner Zeitgenossinnen und -genossen (und mich selbst) den Kopf zerbrochen. Um Operninszenierungen anständig zu lesen, fehlt mir vermutlich die sittliche Reife. Von empfehlenswerten Masterabschlüssen in Psychologie, Komposition und Dirigieren ganz zu schweigen.
In ihren Rezensionen zu Julia Hölschers Inszenierung von „Die Zauberflöte“ (Theater Basel, 19.12.2015) schreiben Christian Fluri (bz) und Sigfried Schibli (BAZ) jedenfalls über Dinge, die mir teilweise oder vollständig verborgen geblieben sind. Was grösstenteils an mir und meiner fehlenden Opernkenntnis liegt, gar keine Frage. Ich habe beim Lesen Ihrer Artikel einige spannende und wichtige Dinge über die Oper gelernt.
Was in den Texten der beiden Herren für meinen Geschmack zu kurz kommt, stellt überraschenderweise Frau Gabriele Kägi in ihrer Kritik für Radio SRF ins Zentrum – das Geschlechterthema nämlich, das ein, wenn nicht gar: das zentrale Motiv der Hölscher-Inszenierung darstellt. Aber der Reihenfolge nach:
Die Lektüre von Herrn Schiblis Text in der BAZ vom 21.12. lehrte mich Folgendes:
1.) Jupe ist ein französisches Wort arabischen Ursprungs und bezeichnet einen im 18. und 19. Jahrhundert unter einer Robe getragenen Rock. Einen solchen trug Papageno, was ihm, dem ansonsten wohl maskulinsten aller Darsteller, einen durchaus androgynen Touch verlieh.
2.) Es muss in Herrn Schiblis Sitzreihe nach Marihuana geduftet haben. Bedauerlicherweise kam ich nicht in den Genuss dieses olfaktorischen Details. Geniessen konnte ich hingegen die angenehm gegen den Strich besetzten Männer- und Frauenrollen. (Keine Angst, konservative Opernfreunde: die Königin der Nacht wird auch bei Hölscher von einer Frau, Sarastro von einem Kerl gesungen, ganz klassisch also).
3.) Zahlreiche gestrichene Passagen des Sprechtextes sind noch misogyner als die nicht gestrichenen Textpassagen, die es in die Inszenierung von Julia Hölscher geschafft haben. Hätten Hölscher und ihr Team alle fragwürdigen Aussagen weggelassen, wäre die Aufführung nach einer knappen Viertelstunde zuende gewesen.
4.) Monostatos als Mohr zu zeigen, wäre laut Herrn Schiblis Analyse politisch inkorrekt gewesen. In jeder Hinsicht gruselig ist tatsächlich der Inhalt des gesamten Librettos, wenn man es aus einer nicht mehr ganz so rassistischen, frauenfeindlichen und gottesfürchtigen heutigen Perspektive betrachtet.
5.) Kinder verstehen laut Herrn Schibli die Zauberflöte in der Inszenierung von Julia Hölscher nicht, weil die bekannten Handlungselemente und Zeichen darin nicht vorkommen. Ich war bisher der Meinung, dass auch sehr viele Erwachsene „das Mysterium dieser beliebtesten aller Opern“ nicht begreifen, weil auf RTL und Pro7 leider kaum Mozart-Opern ausgestrahlt werden.
Bei der Lektüre von Herrn Fluris Text aus der bz Basel vom 21.12.2015 lernte ich ausserdem Folgendes:
1.) Meine Assoziation der Zauberflöte und des Glockenspiels als etwas Sexuellem darf ich aus der Schublade „Unreife Einfälle“ in das Regal „Psychoanalytische Deutungsmöglichkeiten“ umsortieren.
2.) Um die Loslösung Paminas und Taminos von ihren Eltern als modernisierte Variante ihrer in der Oper zu bestehenden Prüfung zu deuten, war ich offensichtlich doch ein wenig zu müde.
3.) Sopran Mari Moriya gestalte „in den virtuosen
Koloraturen mit den berühmten Spitzentönen
auch das Keifende“ der Königin der Nacht, Sebastian Kohlhepps Tenorstimme habe streckenweise metallen geklungen, Paminas Stimme in der Liebesschmerzarie zu stark vibriert. Mich irritierte viel mehr, wie viel weniger man sich über Inhalte ärgert, wenn sie keifend, metallen oder stark vibrierend gesungen werden. Eine wichtige Erkenntnis für zukünftige Diskussionen.
Was Julia Hölschers Inszenierung der Zauberflöte massgeblich prägt, stellt Gabriela Kägi in ihrem Beitrag für das Regionaljournal Basel vom SRF am 21.12.2015 heraus:
Der Umgang mit Klischees. Eine junge Frau inszeniert eine frauenfeindliche Oper. Die „schwachen“ Frauen tragen bei ihr Hosen und treten auf wie selbstbewusste Popdiven, die Männer spielen teilweise Frauenrollen, die Sklaven sind grösstenteils verletzt, der Mohr ein Weisser mit aufgemaltem Skelett. Hölschers inszenierte Kommentare zum Libretto Emanuel Schikaneders sind so zahlreich, dass man versucht ist, zu unterstellen, Mensch könne diese nur übersehen, wenn er sie übersehen will.
Meine unreife Persönlichkeit macht es mir schwer, zu begreifen, warum es lieber nicht um derlei nebensächlich Probleme wie Chauvinismus und Xenophobie gehen sollte, wenn man Opern inszeniert, die der (okzidentalen) Hochkultur zugerechnet werden. Es scheint eher darum zu gehen, die konservierte Schönheit des verklärten Vergangenen in die triste und ambivalente Gegenwart zu transponieren. Die Simplizität der alten Ordnung zu beträllern, die so märchenhaft zutage tritt in unschuldigen Kunstwerken wie der Zauberflöte. Ausserdem natürlich ist wichtig, wer im Publikum einen neuen Frack trägt, wer wem wann im Parkett zuwinkt und ob auf der Bühne alles so ähnlich ist, wie damals, als die Opernwelt noch in Ordnung war.
Liebe Julia Hölscher, ich bin froh um Ihren Versuch, die Zauberflöte zu gendern. Aufgrund ihrer gut gemachten, zugleich geistreichen und humorvollen Besetzungs- und Inszenierungsarbeit war es mir möglich, den Abend zu geniessen, obwohl er inhaltlich dominiert wird von Machtverhältnissen, die einen akuten Brechreiz bei mir auslösen.
Ich hoffe innigst, dass die Zeit, in der es überflüssig wird, das leidige Männchen-Weibchen-Weisser-Mohr-Spiel zu spielen, noch anbricht, bevor die Klimakatastrophe – Verzeihung, noch so ein überflüssiges, weil kontroverses Thema. Es geht doch bei Opernbesuchen um die sinnliche Ablenkung von den schrecklich komplizierten Zusammenhängen des Alltags, nicht um deren Thematisierung. Wo kämen wir denn da hin. Das wäre ausgesprochen lästig und man müsste schon wieder über etwas nachdenken, was einen nicht in der Rolle des erhabenen Menschenwesens bestätigt, die man sich so gerne zurechnet. Wie unnötig. Champagner? Winkewinke!
(Vorhang.)