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Diverse Unbekannte.

„Die Kunst“, sage ich zu ihr, und es entsteht eine lange Pause, während der wir bedeutungsschwanger ins Nichts starren. „Die Kunst“, wiederholt sie nach etwa sechs Minuten, dann stehen wir auf und nehmen unsere Plätze in der vierten Reihe des Theaters wieder ein. „Fauvel“ wird gegeben, die Uraufführung eines Vokaltheaters.

Wir, das heisst: sie, also: meine Begleitung und ich, wir kennen uns nicht. Nur Anonymität gewährleistet die Neutralität unserer gemeinsamen Berichterstattung. Echte Opernkritiker arbeiten so. Nur wegen unserer grossen Professionalität gab man uns überhaupt Eintrittskarten.

Wir, das heisst: sie, also: meine Begleitung und ich, das Schicksal führte uns zusammen in dieser Nacht. Ihr Name bleibt geheim, denn sie ist eine grosse Philosophin und deshalb gerne namenlos. Dem Internet traut sie nicht, denn es vergisst nie, was, wenn man es genau bedenkt, uns allen Angst einflössen sollte.

Aber wir sind naiv und keine anonymen Philosophinnen und publizieren unsere Leben online, weil sie offline nicht gar so interessant sind und sich doch vielleicht durch den Einsatz bunter Bilder und lakonischer Kommentare im weltweiten Netz aufpeppen liessen?

Fauvel ist ein Akrostichon. Das ist, zu Deutsch, ein Leistenvers. Akrosticha gehören sowohl zur Kategorie Steganographie als auch zu den rhetorischen Figuren. Sie sind abzugrenzen gegen reine Abkürzungen beziehungsweise Aneinanderreihungen von Wörtern, also beispielsweise Akronyme wie INRI.

Flatterie
Avarice
Uiléni
Variété
Envie
Lâcheté

Sechs französische Begriffe, deren Anfangsbuchstaben den Namen der Hauptfigur ergeben. All diese Wörter bezeichnen schlechte Angewohnheiten, die der Protagonist auf sich vereint. Er ist ein Alphatier. Ein König. Und ein Esel. Ein Halber jedenfalls.

Fortuna hat ihr Rad recht sonderbar gedreht und so die Ordnung der Welt auf den Kopf gestellt. Die Tiere herrschen nun über die Menschen. Fauvel, der Esel, liebt sie sehr, die Macht. Er wäre vielleicht gern ein Pferd geworden, aber es hat nur zum Esel gereicht.

Die Musik zu Fauvel komponiert hat Lojze Lebič, ein bekannter slowenischer Komponist, Dirigent, Pädagoge und zudem Mitglied der Slowenischen Akademie der Wissenschaften. Es gibt keinen deutschen Wikipedia-Eintrag zu ihm. Die Texte in „Fauvel“ stammen aus den Federn von Gervais du Bus, Erasmus von Rotterdam, Raoul Chaillou de Pesstain, Milan Jesih, Eustache Duchamps und Janez Menart. Erasmus ist der einzige von ihnen mit einem Wikipediaeintrag.

In den Hauptrollen Fortunas, Fauvels und der Masse: Maike Hartmann, Karl-Heinz Brandt und der Chor des Theater Basel. Dirigentin des Abends ist die Frau, die auch für die musikalische Leitung des Abends verantwortlich zeichnet. Und für das Bühnenbild. Und die Inszenierung. Und für die Konzeption des fünfsprachigen Abends

Ihr Name lautet Karmina Šilec, sie ist 48 Jahre alt und ebenfalls Slowenin. Eine hochdekorierte Künstlerin, fast schon so etwas wie ein Universalgenie. Auch über sie gibt es keinen Wikipedia-Artikel.

Folgerichtig ist das Theater Basel nicht ausverkauft.

Ein Abend für Ohrenmenschen sei es, betont die anonyme Philosophin in der Pause nach rund 45 Minuten. Sie sei überrascht ob der formalen Strenge des Abends, habe sie doch nach der Lektüre des Programmhefts einen barockeren Abend erwartet. Ihre Verwunderung sei jedoch positiv, ich solle das nicht als Kritik falsch verstehen.

Sie sei sehr schüchtern, erklärt die anonyme Philosophin mir, perfektionistisch zudem, immer diese Angst, missverstanden zu werden! Ich gebe zu bedenken, dass doch eine Freiheit darin läge, nichts drauf zu geben, was die anderen von einem dächten.

Sie gibt zu bedenken, dass aus dem Kontext gerissene Aussagen einem nun einmal furchtbar falsch ausgelegt werden könnten. Ich erwidere, dass alles, was man tue, sage oder lasse, gegen einen verwendet werden könne. Der Klang der Pausenglocke verhindert die endgültige Dekonstruktion aller Bedeutung, mein linkes Bein ist zudem eingeschlafen.

Die zweite Hälfte des Abends empfindet die anonyme Philosophin als sinnlicher und noch dynamischer als die erste. Irrwitzig sei es gewesen, die Schattenbilder hätten wohl erzählt, dass alles, was da in Fauvel verhandelt wird, stets gleich bleibe und sich endlos wiederhole. Fortuna habe toll gesungen, Fauvel sei nicht so angenehm gewesen, was jedoch fraglos beabsichtig gewesen und daher ihrerseits als Lob zu verstehen sei.

Die anonyme Philosophin merkt an, dass ihr die lateinischen Passagen teilweise zu schwer erschienen seien, wodurch humoristische Absichten des Abends teils etwas unbeweglich gewirkt hätten. Begeistert gewesen sei sie von der präzisen Umsetzung der archaischen Musik sowie der rhythmischen Perfektion des Chors.

Sie selber habe mal bei so etwas Ähnlichem im Chor gesungen und wisse demnach, wie viel schwieriger es sei, eine solche im besten Sinne melodiöse Kakophonie zu interpretieren.

Sicher zwei bis neun Stunden lang unterhielten wir, also die anonyme Philosophin und ich, uns im Anschluss über den gesehenen Abend. Bier floss in Strömen, um uns herum tanzten vom Wohlstand gesegnete Menschen ausgelassen zu bedeutungsloser Populärmusik, dunkel war es draussen schon seit Längerem, da entdeckte sich uns der Zusammenhang zwischen ihrer Anonymität und der verhandelten Thematik im „Fauvel“:

Wir alle gleichen uns und bilden eine Einheit, wir alle tragen etwas vom Fauvel in uns, die Angst, in der anonymen Masse unterzugehen kontern wir mit einem selbstverständlich werdenden Exhibitionismus, wir liefern uns der Masse aus, wir lassen uns von ihrem Urteil vereinnahmen, bloss um nicht übersehen zu werden, wodurch wir die Kontrolle verlieren und verletzlich werden, so dass wir, ähnlich wie Fauvel, am Ende unsere eigene Parodie zu werden drohen.

Vielleicht ist Anonymität die beste Lösung. Sicher ist, dass all diejenigen, deren Plätze am Freitag leer geblieben sind, im September ihren Fehler korrigieren können. Dann kommt „Fauvel“ zurück auf die Bühne. Bis dahin gibt es dann hoffentlich auch einen lobhudelnden deutschsprachigen Wikipedia-Artikel über Karmina Šilec.

Verdient hat sie ihn.

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