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Wuttke vs. Megge.

Der junge Mann, der mich zur Drummeli-Premiere begleitet, ist gebürtiger Basler. Luis Manuel ist Jahrgang 1994, zur Hälfte Portugiese und seit seiner Kindheit von Musik begeistert. Seit er 12 ist, spielt er selber Schlagzeug, unter anderem in einer Jazzband. In seiner Freizeit legt er auf. Die Fasnachts-Trommelei war für ihn bisher nie ein grosses Thema, erzählt er. Seit etwa zwei Jahren fände zwischen ihm, dem Studenten an der Hochschule für Pädagogik, und den „Drei Schönsten Tagen“ aber eine zarte Annäherung statt. Wer in Basel geboren ist, aufwächst und bleiben will, muss wohl damit rechnen, dass die Fasnacht ihn früher oder später absorbiert.

Der Regisseur des diesjährigen Drummeli ist einer meiner besten Freunde. Wir haben jahrelang zusammen Theater gemacht, und auch in diesem Fall bin ich am Verlauf des Abends nicht ganz unschuldig. Mein Sitznachbar befand sich also in einer ausgesprochen unangenehmen Situation, als nach dreieinhalb Stunden Drummeli der Vorhang fiel: manchmal ist es schwierig, zugleich höflich und ehrlich zu sein.

Das Händchen der Schweizer für Diplomatie wird jedoch auch an diesem Abend ein weiteres Mal unter Beweis gestellt. Statt betreten zu lächeln oder sich mit der Benutzung des Adjektivs „interessant“ aus der Affäre zu winden, stellt sich Luis Manuel als durchaus differenzierter Kritiker heraus. Womöglich fallen seine Rückmeldungen zu den Rahmenstücken etwas subtiler aus, als das ohne meine privaten Verstrickungen der Fall gewesen wäre. Aber er bemüht sich nach Kräften, ein möglichst objektives Urteil zu sprechen.

„Sag ruhig, wenn Du es scheisse fandst“, ermuntere ich ihn grinsend, aber er wehrt sich gegen derlei bequeme Abkürzungen. Er diagnostiziert Längen, moniert fehlenden Zusammenhalt zwischen einzelnen Szenen und bemängelt hier und dort humoristische Verständnisschwierigkeiten. Aber seine Untersuchung geht sehr viel weiter: „Irgendwie stimmt doch da etwas Grundsätzlicheres nicht“, analysiert er die Veranstaltung. „Ich dachte immer, das Drummeli sei ein Abend, an dem die Leute während der Show feiern und essen und rein- und rauslaufen, während auf der Bühne was passiert“, sagt er. Und überlegt laut weiter: „Diese krasse Trennung von Publikum und Akteuren wie hier im Musical-Theater, das tut der Geschichte irgendwie überhaupt nicht gut, habe ich den Eindruck“.

Überrascht habe ihn die Lockerheit der Veranstaltung, gesteht er. Märsche, auf einer Bühne vorgetragen – er habe sich das alles strenger und strammer vorgestellt. Die Schnitzelbänke hätten ihm gefallen, sagt er, „davon hätte es mehr vertragen“. Überhaupt sei er sich nicht sicher, inwieweit es ein Format wie die Rahmenstücke überhaupt brauche. „Abwechselnd musikalische Nummern und ein paar Schnitzelbänke zwischendurch, das reicht doch völlig“, meint er. „Ich habe keinen Vergleich, wie das früher war, aber den Eindruck, dass das ganze Ding irgendwie zu gross und viel zu kompliziert geworden ist, werde ich nicht los“, ergänzt er seine Überlegungen.

Drei Tage später treffen wir uns wieder. Erneut vor einem Theater. Erneut, um gemeinsam eine Premiere anzuschauen. Diesmal allerdings keine Vorfasnachtsveranstaltung, sondern die preisgekrönte Inszenierung eines Ibsen-Klassikers mir Starbesetzung: «John Gabriel Borkman» ist zu Besuch in Basel. „Und, viel Gutes gehört noch über’s Drummeli?“, frage ich grinsend, und er lächelt mich schweigend, aber vielsagend an. Wir geben die Jacken ab und suchen unsere Plätze.

Eine Bühne, die Schauspieler Minichmayr, Koch, Peters, Rothbart, Kirsch, Amuat, Wuttke und kiloweise Kunstschnee – fertig ist die Antwort auf die Frage, ob’s sowas wie Theater braucht. Die intelligente Variante von „Eine schrecklich nette Familie“ stapft da im Gestöber ihrer eigenen Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, saufend und rauchend durch die Verwehungen der Borkmanschen Familienchronik. Birgit Minichmayr torkelt, krächzt und bipolarisiert als übergriffige Psychomama Gunhild derart überzeugend durch den frostigen Mikrokosmos, dass man ihr zwischenzeitlich gerne an die Gurgel gehen würde.

Roland Koch macht aus dem wirren Wilhelm einen herrlich hadernden Helden, Martin Wuttke irrlichtert wie Gandalfs irdischer Saufkumpan über die Bühne, fantasiert von seinem baldigen Comeback, ist aber eigentlich damit ausgelastet, sich selbst und all diejenigen zu verabscheuen, die ihn verraten haben, verlassen werden oder ihm noch immer nicht verzeihen können.

Oft habe ich mich gefragt, wie das wohl war zu Shakespeares Zeiten. Als das Theater es angeblich schaffte, gestandene Leute im Publikum dazu zu verleiten, ins Bühnengeschehen einzugreifen. Sie dazu zu bringen, den Helden zu warnen, wenn sich der Bösewicht von hinten anschlich. Irgendwann im Verlauf dieses Abends habe ich das Gefühl, genau dieses Phänomen am eigenen Leib zu erleben. Man will Gunhild und Ella von ihrem armen Liebling Erhart wegzerren. Man will John Gabriel abwechselnd für seine Galligkeit ohrfeigen und umarmen. Und man möchte Wilhelm auf die Schulter klopfen, wenn er sich für seine Tochter freut, die ihn auf der heimlichen Flucht vor ihrem Zuhause gerade überfahren hat. Eben aufgrund der zielsicher eingesetzten Künstlichkeit wirkt vieles an diesem Abend geradezu beklemmend echt.

Nach zwei Stunden „John Gabriel Borderline“ und einem Applaus, der wohl auch Kunstschnee tauen lässt, ist unsere Nachbesprechung mit wenigen Sätzen erledigt: „Das ist mit Abstand das Beste, was ich bisher am Theater gesehen habe“, schwärmt Luis Manuel von Simon Stones zweiter Ibsen-Inszenierung für das Theater Basel. „Das einzige, was mich ein bisschen gestört hat, ist die Rolle von der mit der Gitarre. Die Tochter von Wilhelm. Wieso ist die mit Erhart abgereist am Ende? Was wollte die eigentlich von Borkman? Ich schnall’s noch immer nicht. Aber egal. Wahnsinnsabend. Danke für’s Privileg, das sehen zu dürfen“.

Ob das 2017 jemand über’s Drummeli sagen wird, bleibt abzuwarten. Bei aller Kritik, die die Verantwortlichen 2016 einstecken, sei an dieser Stelle kurz erwähnt, dass diese undankbare, übergrosse, mit Erwartungen und Traditionen gespickte Nummernrevue einen Spitznamen trägt, der es nicht zu Unrecht bis auf die Eintrittskarten schafft: „Monstre“ steht da zu lesen.

In Basel macht man aus Monstern ja traditionell gern zahme Wappentiere. Aber auch die haben nicht immer Trinkwasser gespien.

 

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