Zum Inhalt springen

Fast Perfekt.

Es gibt Gespräche, die man kaum wiedergeben kann. Das Interview mit Alessandro Schiattarella ist so ein Fall. Zwei Minuten, nachdem ich mich zu ihm an den Fenstertisch im Café Flore an der Klybeckstrasse gesetzt habe, geht es schon um die ganz grossen Dinge: Erfolg, Angst, Normalität, Schönheit, Zugehörigkeit, Scheitern, Macht. Nach 120 Minuten brechen wir erschöpft unser Interview ab. Ich fühle mich, als hätte ich zwei Stunden lang Ballett getanzt im Kopf.

Alessandro wird über diesen Vergleich vermutlich nur leise lächeln können. Im Gegensatz zu mir weiss er schliesslich tatsächlich, was es bedeutet, Ballett zu tanzen. Und zwar höchstprofessionell. „Mit 12 wusste ich, dass ich Tänzer werden wollte“, erzählt er. Seine Eltern liessen ihn machen. 15jährig zog er los, um seinen Traum zu verwirklichen, und verliess dafür seine geliebte neapolitanische Familie. „Als Tänzer lernst du schnell, dass die Beziehungen in der Welt des Tanzes ziemlich instabil sind“, sagt er. Und meint damit nicht nur die Schwierigkeit, zu zweit auf Zehenspitzen zu balancieren.

Am Movimento Danza und dem Teatro San Carlo in seiner Heimatstadt Neapel, am Teatro della Scala in Mailand und an der École Rudra Béjart in Lausanne liess Alessandro sich ausbilden. Nicht nur in klassischem Ballett und zeitgenössischem Tanz, sondern gleich auch noch in Operngesang, Percussion, Schauspiel und Kampfsport. Mit 20 hatte er sein Ziel erreicht: er begann seine Karriere als professioneller Tänzer am Béjart Ballet Lausanne. Sechs Jahre tourte er mit der renommierten Truppe um die Welt, bevor er über Stationen in Genf, Rotterdam und Bern schliesslich in Basel landete.

Die perfekte Karriere also? Keineswegs.

Kaum hatte er seine Ausbildung begonnen, musste Alessandro Schiattarella sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass sein Körper nicht so wollte wie sein künstlerischer Ehrgeiz. Eine seltene neuromuskuläre Krankheit mit dem wohlklingenden Namen Hirayama-Syndrom, die eigentlich zumeist Männer asiatischer Provenienz betrifft, sorgte für eine Degeneration seiner Unterarmmuskulatur – der Tänzer Alessandro verlor die Kraft in zwei seiner wichtigsten Werkzeuge: den Händen.

Der Prozess, den ein Mensch durchläuft, der sich an einem Punkt seines Lebens mit einer solchen „unerwarteten Wendung“ arrangieren muss, dauert lang und ist schmerzhaft. Alessandro erzählt, dass er ihn grösstenteils allein durchgestanden hat. In der Welt des Tanzes sind Defizite eigentlich nicht vorgesehen: es geht schliesslich um Perfektion, körperliche Höchstleistungen, und auch: um Schönheit.

„95% aller Tanzproduktionen brauche ich nicht“, beantwortet Schiattarella meine Frage, ob es denn Tanz noch brauche, und ergänzt: „Ich sehe Tanz als ein Werkzeug, um etwas zu kommunizieren. Wenn Tanz etwas Persönliches zum Ausdruck zu bringen, einen Dialog herzustellen vermag, kann ich ihn rechtfertigen. Tanz, in dem es nur um das Ego der Performer oder Choreografen geht, interessiert mich nicht. Schönen Menschen auf schönen Bühnen dabei zuzusehen, wie sie schöne Dinge erfüllen, langweilt mich.“

Mit dem „Kanon der Schönheit“, wie er ihn nennt, steht Alessandro auf dem Kriegsfuss: „Es gibt Kreise, in die man nur aufsteigen kann, wenn man sich vollends ihren ästhetischen und sozialen Regeln unterwirft. Diese Machtzirkel gilt es, aufzubrechen“, erläutert er mir seine veränderte Sicht auf die Dinge. Und er weiss sehr genau, wovon er spricht. Im Profizirkus der Tanzkunst musste er lange Zeit so tun, als wäre alles in Ordnung mit ihm, um den Erwartungen der Szene entsprechen und Teil des kleinen Kreises der Auserwählten bleiben zu dürfen.

Durch Alessandro Schiattarellas Erzählungen klingt durch, wie dünn die Luft ist im Zenith einer Tänzerkarriere. Wie unerbittlich die Anforderungen an Körper und Geist sein müssen, die man an sich zu stellen hat, wenn man es in der kurzen Zeit, die einem Profitänzer für Höchstleistung bleibt, ganz nach oben schaffen will. Hier, am Tisch in Café Flore, wirkt es fast so, als würde Alessandro aus dem Leben eines anderen erzählen. Aus dem Leben eines jungen Mannes, der er einmal war, aber nicht bleiben durfte, konnte – oder vielleicht: musste?

Eines ist klar: an seinem Handycap ist der sympathische junge Mann gewachsen. Er hat sich aus der Krise von Körper und Seele ein neues Selbstbewusstsein aufgebaut. Auf dem Weg in seine zweite Karriere hat er sich mit einem Thema angelegt, das erst dann wirklich erkennbar wird, wenn es plötzlich infrage steht: Normalität.

Eine Weile kreist unser Gespräch darum, was das eigentlich sein soll, „Normalität“. Auch als Choreograf hat Alessandro Schiattarella sich diesem Thema angenommen: in dem von ihm erarbeiteten und vorgetragenen Tanzsolo „Tell me where it is“ geht es um seine Hände, die Angst des von anderen und sich selbst als deformiert wahrgenommenen Subjekts, die Identitätssuche eines aus dem eigenen ästhetischen Kanon geschleuderten Menschen und Künstlers.

Tanz, so sagt es Schiattarella selbst, ist für ihn ein Kommunikationsmittel. Vielleicht lässt sich seine eigene Geschichte nur auf dem Weg einer Choreografie wirklich erzählen: die Geschichte des sensiblen, intelligenten, ziemlich perfekt trainierten jungen Mannes, der sich selbst seine neue Tanz- und Wertewelt zu erfinden gezwungen wird. Mit „Tell me where it is“ wagte Schiattarella den öffentlichen Tanz mit seinen ganz persönlichen Dämonen – und gewann dabei ein grosses Stück Freiheit zurück.

Sich selbst zu hinterfragen, zu durchschauen, Wünsche und Ängste zu erforschen, Fähigkeiten und Unfähigkeiten kennenzulernen, sie zu begreifen und so aus Schwächen Stärken zu machen – die Ziele des 34jährigen Neapolitaners sind so weit von der klischierten Oberflächlichkeit des klassischen Balletts entfernt, dass man ahnt, wie anstrengend die Reise für den ausdrucksstarken Tänzer gewesen sein muss.
„Bist Du ein Gegner der Schönheit geworden?“, frage ich ihn. Alessandro überlegt einen kurzen Augenblick. „Es kommt auf die Definition des Begriffes Schönheit an“, antwortet er. „Die Form von Schönheit, die mich in der Kunst, beim Tanz, weiterhin interessiert, ist eine, die das Ergebnis eines Denkprozesses ist. Der Ausdruck einer Idee. Diese Schönheit mag ich. Als oberflächliches Konzept hat die Schönheit mich zum Gegner, ja“. Er sagt all das ganz ruhig, bedacht, so wie er generell zu sprechen scheint: in weichen, fliessenden Sätzen, freundlich, respektvoll, bescheiden und immer wieder: fast ein bisschen weise.

Auch Schiattarellas Definition von Erfolg und Karriere hat sich im Laufe der vergangene Jahre grundlegend geändert. „Erfolg ist für mich nicht mehr, zu irgendeiner Elite dazuzugehören. Erfolg ist für mich, wenn es einem gelingt, einen Schritt in die richtige Richtung zu tun. Etwas zu lernen. Fehler nicht zu wiederholen“. Das sei allerdings ein mühsamer und langsamer Prozess.

Als wir über Beziehungen reden, wird Alessandro noch ein wenig nachdenklicher, als er es ohnehin schon zu sein scheint. „Hast Du einen Partner?“, frage ich ihn unumwunden. „Nein“, lautet die Antwort, und es entspinnt sich in der Folge ein Gespräch über den Egoismus. „Ich habe bisher den Menschen nicht getroffen, für den ich meine persönliche zugunsten der gemeinsamen Entwicklung drangeben würde“, erzählt er, „da bin ich wohl ein ziemlicher Egoist, fürchte ich.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert